Wenn sie singen

Du gewöhnst Dich daran, dass die Sonne um drei Uhr fünfzig aufgeht. Du gewöhnst Dich an den hell schimmernden Horizont, der liebevoll die Nacht ansäumt. Sie, die Nacht, ist weich und samtig. Und kurz. Immer gehst Du schlafen, wenn die Vögel wieder singen. Kein Polartag und keine Mittsommernacht, aber etwas Engverwandtes. Und dieser Mai, denkst Du, ist erst der Anfang.
Du träumst, dass Du dünner und dünner wirst. Zu Beginn sieht Deine Silhouette interessant aus, spannend, Du lehnst Dich weit und leidenschaftlich nach hinten, über ein imaginäres Geländer weg. Aber das ist erst der Anfang. Später wird es grausam, unheimlich, Du bist nur noch ein grotesker Zweig. Der Traum endet, als Du beinahe zu sein aufgehört hast.
Du gewöhnst Dich daran, dass der natürliche Lauf der Dinge, wie sie ihn nennen, ein Wildwasserlauf ist, der seine Zufälle verspielt und präzise wie eine jagende Hauskatze wählt. Und das, denkst Du, ist erst der Anfang. Wildwasser ist ohnehin eines Deiner Lieblingsworte, zur Zeit.
Du siehst Filme auf Englisch und zwei Wimpern auf den Wangen Deines Gegenübers. Trent Reznor ist mal wieder der Meinung, dass Du die perfekte Droge bist.

Königskuss

Es ist zweiundzwanzig Uhr zweiundzwanzig. Ich verspüre tatsächlich Langeweile. Meine Gedanken sind heute ein Sumpfgebiet. Ich gehe ins Bad. Der Musenkönig kommt ohne anzuklopfen. Beim Duschen küsst er meine rechte Pobacke. Wer hat den Kerl nur erzogen.

In neuen Schuhen

Die Stadt verführt mich immer wieder. Ich schweife endlos aus. Jede Gasse, jede Allee, jede Strandpromenade reizt mich, ihr jenseitiges Ende zu erkunden. Ich gehe, bis ich Blasen an den Füßen habe.
Dann kaufe ich mir ein Paar bequeme Lederschuhe und gehe weiter. Clarks, Modell Funny Face in Schwarz, für die Markenfetischisten. Da hinein gehören rote Feinstrumpfhosen, denke ich. Habe ich, trage ich, sehr gut. Die Schuhe sind aus einem kleinen Seitenladen namens Knulp. Er trägt diesen Namen wirklich wegen Hermann Hesse, erfahre ich später. Ich entdecke ihn zufällig, wie man so sagt. In den großen Kaufhäusern hingegen ist die Schuhsuche wirklich vergebens. Das Schuhwerk der Massen scheint nicht für Füße gemacht. Wofür sonst, frage ich mich.
Seit vierzig Stunden habe ich nur etwa vier Stunden geschlafen. Ich mag den Stockholmer Regen. Die weichen Sohlen meiner Schuhe geben mir das Gefühl, einem großen Unheil entkommen zu sein. Knulp, sehe ich jetzt, hat sogar eine hübsche Webseite.

Strömungsforschung

Im Stockwerk über mir steht ein Klavier. Ein Lied wird auf ihm gespielt, immer nur ein Lied. Langsam, träge wie Honig, süß und schwer. Ich habe Lust zu küssen. Den Erstbesten will ich nicht, den Zweitlangweiligsten auch nicht. Der deutsche Strömungsforscher wäre vielleicht in Ordnung. Manchmal steht er pfeifend in der Küche. Er ist nicht da. Dem Klavier nachhängend tippe ich weiter. Aufblicken vom Rechner ist manchmal wie Aufwachen. Ich wünschte, das Klavier möge ewig weiterspielen.