Wüstenspargel

Fünfzehn Grad, Meeresluft und rasch wandernde Wolken über Lissabon. Statt die Elevadores zu benutzen, gehe ich zu Fuß, strebe von Graffiti zu Graffiti. Manche Viertel quellen über vor Kolorit, ich sauge die Farben auf wie ein Schwamm. Glücklich eine Speise zu kosten, über die ich bisher nur geschrieben habe, kaufe ich mir Pastéis de Nata. Abends warten Dachterrasse und Portwein. Wird es Nacht, kriechen überall die Haschverkäufer, Kokaindealer, Heroinhändler hervor. Im Hafen lauern die Monster.
In der nächsten Nacht fliege ich weiter, scharf gen Süden, aber auch eine weitere Stunde gen Sonnenuntergang. Silvester in einer anderen Zeitzone zu verbringen relativiert die Dringlichkeit der Neujahrssekunde, den Prunk des Feuerwerkspathos, dieses Bersten und Wegrutschen des alten Jahres. Ich feiere online Neujahr mit den Freunden und zwei Stunden später noch einmal auf der Straße, am Strand, mit den Bewohnern der kleinen Insel. Mitten im Atlantik, wo der Halbmond wie eine Schale hängt. Wo Orion sich auf den Rücken legt. Wo Sprachen und Währungen sich mischen und der Wüstenspargel zwischen Sand und Salz hervorschießt.