Archiv der Kategorie: Tagebuch

Blattgold

Ein Fenster in diesem Haus aus Arbeit, ich sitze auf einer Bank, deren linkes und rechtes Standbein je ein Röhrenfernseher ist. Die Wand hinter mir ist mit den Seiten alter Comichefte tapeziert, hier und da hängt ein Bandplakat. Diese ganzen hippen Biolimonadenflaschen, ich kann sie nicht anschauen, ohne an meinen Protagonisten zu denken. Sonnenlicht fällt herein, steigt mir zu Kopf, als Röte in die Wangen, ich trage eins meiner liebsten Kleider und ein Fetzchen Blattgold auf dem Arm. Die Nähe der Freunde, die Euphorie gemeinsamer Pläne, wir stecken Zuckertütchen in Bärte und im Dickicht unserer Gespräche wohnt ein leises, freudiges Bald.

Pendenzenliste

An manchen Stellen ist das Türkis des Wassers unverschämt leuchtend. Weiter landeinwärts flüstern die Laternen vor sich hin, klingen nach Beduinenzelt, nach Wüstensturm. Ich erinnere mich an die Muster aus blondem und vulkanschwarzem Sand, an den Marmorkuchengrund der Atlantikinsel, träume immer noch vom Surfen. Träume aber auch von rosa Reiterhofbarbies, träume ökologische Werbespots und davon, dass ich die Chance verpasse, Donald Trump zu erwürgen. Wir blasen ihm stattdessen Konfetti ins Haar, im Internet, Lachen als Linderung.
Als der Verlagsvertrag da ist, kaufe ich vom Vorschuss erst einmal Bücher. Typisch, denke ich und tauche ab in eine Sprachorgie von Wolfgang Koeppen. Was liegen bleibt, ist nicht nur das Schreiben, auf der Pendenzenliste stehen auch Dinge wie Perücke kaufen, ein Buch erschießen und literarisch gucken lernen.

Wüstenspargel

Fünfzehn Grad, Meeresluft und rasch wandernde Wolken über Lissabon. Statt die Elevadores zu benutzen, gehe ich zu Fuß, strebe von Graffiti zu Graffiti. Manche Viertel quellen über vor Kolorit, ich sauge die Farben auf wie ein Schwamm. Glücklich eine Speise zu kosten, über die ich bisher nur geschrieben habe, kaufe ich mir Pastéis de Nata. Abends warten Dachterrasse und Portwein. Wird es Nacht, kriechen überall die Haschverkäufer, Kokaindealer, Heroinhändler hervor. Im Hafen lauern die Monster.
In der nächsten Nacht fliege ich weiter, scharf gen Süden, aber auch eine weitere Stunde gen Sonnenuntergang. Silvester in einer anderen Zeitzone zu verbringen relativiert die Dringlichkeit der Neujahrssekunde, den Prunk des Feuerwerkspathos, dieses Bersten und Wegrutschen des alten Jahres. Ich feiere online Neujahr mit den Freunden und zwei Stunden später noch einmal auf der Straße, am Strand, mit den Bewohnern der kleinen Insel. Mitten im Atlantik, wo der Halbmond wie eine Schale hängt. Wo Orion sich auf den Rücken legt. Wo Sprachen und Währungen sich mischen und der Wüstenspargel zwischen Sand und Salz hervorschießt.

Gallium

Nebel, Eiskristalle, der verstohlene Blick in den Briefkasten. Jeden Tag könnte das Stück Papier da sein, das besiegelt, dass weitere vier Jahre Arbeit nicht vergebens waren. Schwarzkirschtee, der Subwoofer versetzt den Fußboden in sanfte Vibration. Im Kopf führe ich Gespräche mit Teenagern, versuche zu erklären wie das funktioniert mit dem Autorsein, wie das nicht funktioniert. Diesmal nicht die Kleinste, die Jüngste in der Theatergruppe, im Literaturkurs, die Achtklässlerin, die versucht, mit den Oberstufenschülern über Cees Nooteboom zu sprechen. Diesmal die Große, die Ehemalige, die zurückkommt an ihre alte Schule und den Achtklässlern Rede und Antwort steht. Das alte Gymnasium, seit Jahren nicht betreten, teils bewusst gemieden, das alte Ich, die alten Lehrer, und ich weiß nicht, sprechen sie mit dem Kind von damals oder wirklich mit mir.
Die Musik brummt mich behutsam zurück aus meiner Grübelei, zurück ins Kirschteezimmer. Ich arbeite, an Worten, an der nächsten Collage und daran, nicht in den Spalt zwischen Kühlschrank und Herd zu fallen. Später, Flucht ins Teamspeak, ich plausche mit den Weltraumpiloten. Sie liefern Tierfleisch, Kaffee, Gallium in ferne Sternsysteme, sie fliegen weiter, auch wenn ihre Frontscheibe zerrissen und der Sauerstoff knapp ist.

Splittperforiert

Cannstatt, Couscous, danke sagen auf Arabisch. Ich sammle einen demolierten Papierflieger aus dem Rinnstein, Wasserflecken, splittperforiert, gehe Treppenstufen hoch. Wider Erwarten gleitet das knittrige Flugobjekt smooth, supersmooth. Zieht eine große Schleife, nicht ins Grün, sondern auf fünfspurigen Asphalt hinunter, mein Kopfkino entwirft schon Unfallszenarien. Aber Krachen, Fluchen, sich faltendes Blech bleiben aus, ich kann weitergehen, unschuldig. Eichhörnchen tollen über meinen Weg, Seelöwen brüllen. Unter der König-Karls-Brücke, Hall of Fame, sind vier, fünf Graffitikünstler bei der Arbeit, ich atme den Spraydosenduft. Etwas abseits sitzt ein Riesengermane in seinem Korbstuhl und schmollt in die Welt. Er hat den Flügelhelm auf dem Kopf, ich die Sonnenbrille im Haar. Er brummelt, er wartet, dass jemand seinen türkisfarbenen Bart krault. Ich klettere auf seinen Schoß.