Abendgekrächz

Als hätte ich nie gelernt, was meine Gefühle bedeuten. Als wäre ich erst ein paar Wochen alt. Ein taufrisches Wesen, im Körper einer halbwegs erwachsenen Frau und mit dem Verstand einer studierten Besserwisserin. Dieser Verstand sucht sich oftmals einen Weg durch meine Gefühlslandschaft, kartografiert und wundert sich. Alles neu. Im Nebel irren oder Brotkrümel streuen. Ich bin ein Winterwunderland und im Frühling weiß man nie, was unter der Schneedecke herauskommt. Das rote Ledersofa steht mal hier, mal dort. Ich mag das Geräusch leerer Zimmer. Ein leichtes Hallen, als sei hier noch niemand eingezogen. Immer wieder heißt es, wir sollten doch wenigstens Lampen aufhängen. Wer anderthalb Jahre keine Deckenlampen brauchte, denke ich, wird auch weiters keine brauchen. Ich öffne alle Fenster, durchlüften, einatmen. Eine Gitarre tupft watteweiche Tonflecken an die Wand, Musik, nicht nur im Kopf. Schwarze Vögel machen ein Abendgekrächz in den Bäumen. Es geht mir gut.